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Humor und Identität

Sich selbst komisch finden als Strategie der Krisenbewältigung

Denn neben der enorm positiven medizinischen und psychohygienischen Wirkung hat der Humor noch eine weitere: Er löst die zu feste Anhaftung an eine biografisch entstandene Identität und berührt damit den Kern der Persönlichkeitsentwicklung.

Fakt ist: Im Zuge unserer geistigen Reifung werden wir andere als wir waren. Unsere Identität ändert sich, und damit die alte gehen kann, braucht man ein bisschen Abstand zu ihr. Mal will man sich, mal muss man sich aus der alten Haut rauspellen. Dabei kann die Distanz zur eigenen, nun überholten Rolle helfen, und genau das ist, was der Humor einem verschafft. Er hilft in diesem Übergang vom Alten zum Neuen sich in dem, was man war, nicht mehr so ernst zu nehmen und erlaubt so zu wachsen: heute eine andere zu sein, als ich noch gestern war.

Wie stark ist der Klebstoff?

Wir identifizieren uns immer mit irgendetwas. Immer halten wir uns für irgend jemand, und immer finden wir irgendwo Heimat, ein Zuhause, Geborgenheit, sei es in einer Kultur, einer Gruppe, einer Familie, einer Beziehung oder einem Job. Für einen Obdachlosen mag das ein bestimmter Karton unter einer bestimmten Brücke sein, für uns mehr vom Glück Begünstigte sind es in der Regel ein komfortablerer Ort und luxuriösere Dinge. Niemand von uns lebt im völlig im Niemandsland. Das Anhaften an irgendetwas oder irgendjemand gibt uns Identität: das Gefühl jemand zu sein und in der Welt etwas zu bedeuten.

Wir Menschen können zu wenig von solcher Identifizierung haben, aber auch zu viel davon. Wenn es zu viel ist, wenn die Identifizierung zu stark ist und der Klebstoff des Anhaftens zu fest, dann hilft Humor, davon wieder ein bisschen runterzukommen. Man gewinnt Abstand zu sich. Die in einem Konfliktfall oder in der Krise angegriffene Identität erscheint dann nicht mehr die einzige zu sein, in der Heimat zu finden möglich ist, sondern nur noch als eine unter vielen und eine, die man auch ablegen könnte. Mit Humor betrachtet scheint es, als ich hätte ich nur gespielt ein solcher zu sein, der sich da mit jemandem gestritten hat oder mit etwas gescheitert ist. Ich kann auch anders, ich kann auch ein anderer sein.

Angriff und Lösung

Da die meisten unserer Konflikte und Krisen mit Identität zu tun haben, setzt Humor auch in der Konfliktlösung und Krisenbewältigung hier an: nicht mehr so sehr derjenige zu sein, der sich da streiten will und auf seiner Position beharrt, sondern eine andere Möglichkeit mal auszuprobieren. Wäre doch schön, wenn Wladimir Putin sich auch als ein anderer sehen könnte und nicht mehr nur als der Garant des bisherigen, von Oligarchen regierten Russland.

Aber ich stecke nicht in seiner Haut; von außen betrachtet erscheint sowas immer leichter lösbar als von innen. In meinen eigenen Konfliktfällen kann ein Witz, den jemand über mich macht, mir dazu verhelfen, dass ich meine Verbissenheit in der Rolle darin besser sehen kann. Mag sein. Es kann aber auch sein, dass ich nicht das Vertrauen habe, dass dieser Witzbold mir wirklich helfen will – mir auch in dem helfen will, was mich hier so verbissen beharren lässt. Dann kann ich seinen Humor nicht akzeptieren und werde seine Witze als Angriff gegen mich – mich!!! – empfinden, und die Anhaftung an die Rolle, die mich da kämpfen lässt, wird sich verstärken.

Vertrauen

Ein wichtiger Punkt für den Einsatz von Humor in der Therapie und zur Krisenbewältigung ist: Er muss zum rechten Zeitpunkt kommen, und es sollte ein Vertrauensverhältnis bestehen zwischen dem Humoristen (Therapeuten oder Krisencoach) und seinem Klienten oder Patienten. Im Falle einer starken und für den Klienten spürbaren Empathie ist das gegeben. Dann findet sich die Klientin nicht ausgelacht oder verspottet, sondern angelacht, mit einer ansteckenden Freude, die aus dem Wissen entsteht, dass wir Menschen schillernde Gestalten sind, Spieler auf der Bühne des Lebens, Therapeutin und Klient, beide, wie wir alle. Manchmal hilfst du mir, mich daran zu erinnern, manchmal ich dir. Und immer geht es dabei um Identität: Für wen halte ich mich dabei eigentlich? Für wen hältst du dich?

Wer bist du?

Mir hat dabei der weise Ramana Maharshi geholfen. Er lebte von 1879 bis 1950 in Südindien und gilt heute als einer der größten Weisheitslehrer des 20. Jahrhunderts. Dabei lehrte er doch nur das: Frage dich, wer du bist! Er war kein Witzbold, sondern führte ein schlichtes, anfangs sehr entbehrungsreiches Leben, darin einigen Aspekten der körperverachtenden, asketischen Traditionen Indiens folgend, die ich keinesfalls empfehlen möchte. Aber der Kern seiner Lehre ist schlicht und umwerfend stark. Mehrere Weisheitsbewegungen der Moderne sind daraus hervorgegangen, darunter die des »Enlightenment Intensive«, bei der in Selbsterfahrungsgruppen von drei Tagen bis zu sechs Wochen Länge alle Teilnehmer jeden Tag von morgens bis abends einander gegenüber sitzen und sich ausschließlich diese eine Frage stellen: Sage mir, wer du bist! Das ist zwar bei richtiger Anwendung eine sehr tief gehende Frage, aber die Inszenierung dieser Fragestellung ist hier körperlich sehr eingeschränkt. Wir sitzen eh schon genug auf unseren Arbeitsplätzen am Computer. Besser, man bewegt sich ein bisschen und spielt – und fragt einander nicht nur nach der Identität, die dann verbal ausgesprochen wird, sondern zeigt sie! Zeige mir wer du bist! Zeige mir eine der vielen, schillernden Facetten deiner Identität! Spiele damit! Wenn du damit spielen kannst, dann kannst du dich auch davon lösen.

Auch die Taoisten und Zen-Meister Ostasiens möchte ich hier noch erwähnen. Sie erscheinen uns heute großenteils als Humorbolzen, die es dick hinter den Ohren hatten. Deshalb nenne ich Humor gerne auch den »Zen des Westens«. Die Religionen des Westens mögen ein bisschen zu ernst sein, zu steif und rechthaberisch. Dafür hat sich außerhalb dieser Religionen eine Art Mystik entwickelt, eine Kultur der Paradoxie: die Kultur des Humors in allen seinen schillernden Varianten. Nicht alle davon sind therapeutisch hilfreich. Ego-erschütternd sind sie allemal.

Rein- und wieder rausfallen

Deshalb halte ich das Spiel und die Anwendung von Humor in der Therapie, im Coaching, in der Krisenbewältigung und bei der Lösung von Konflikten für ein geniales Mittel, denn es greift den Kern an: das, wofür wir uns halten. Ein »Angriff« ist aber noch keine Heilung. Oft ist dieser Beschuss des Kerns nur ein erster Schritt zur Lösung, denn nach dem befreienden Lachen über eine Anhaftung, in die wir uns vernarrt oder verirrt haben, brauchen wir wieder eine Heimat.

Nach dem Festhalten an einer Identität, einem zu sehr Rechthabenwollen, aus dem uns dieses Lachen oder feine Lächeln gelöst hat, brauchen wir wieder einen Ort, an dem wir wohnen können. Wir müssen uns erlauben, wieder in einer Identität zu landen, in der wir uns wohl fühlen, obwohl diese Identität, je nach Betrachtungsweise, uns komisch aussehen lässt. Der allseits humorvolle Therapeut oder Coach sollte das in Erinnerung behalten: Wir wollen auch ernst genommen werden. Nach jedem befreienden Lachen kehren wir wieder irgendwohin zurück, an irgendeinen Landeplatz, an dem wir für eine Weile nicht mehr lachen. Wir können ja nicht ständig lachen, das wäre zu anstrengend. Außerdem würde man uns dann für irre halten – und hätte damit sogar recht.

Lachen, Lächeln oder Schmunzeln ist ein Anzeichen für ein Rausfallen aus einer Identität. Es ist ein kleines (manchmal auch großes) Erwachen aus einer Illusion. Im Kern ist dies immer die Illusion, ein gewisser Jemand zu sein. Logisch, dass wir nicht ständig aus etwas rausfallen können, um das begehrte Lachen wieder zu erleben, wenn wir uns vorher nicht in etwas haben reinfallen lassen – wenn wir nicht vorher irgendwo reingefallen sind. Reinfallen und wieder Rausfallen wechseln einander ab, das ist der Weg der menschlichen Entwicklung. Wer das erkennt und für sich selbst annehmen und vielleicht sogar anwenden kann, ist weise. Wer mit dieser Weisheit anderen Menschen helfen kann, ist ein guter Therapeut oder Coach.

Zehn Tipps

Jetzt noch ein paar Tipps für den Umgang mit Humor im Umgang mit sich selbst und anderen, die das eben Gesagte verdichten und zusammenfassen.

1. Zuerst eine Definition: Eine Rolle ist ein Set wiederkehrenden Verhaltens, ein Verhaltensmuster.

2. Spielerisch sein heißt, sich von der aktuell gespielten Rolle (dem aktuellen Muster) lösen können.

3. Jeder Akt von uns auf der Bühne des Lebens und jede Beschreibung eines solchen liegt immer irgendwo zwischen den Polen tragisch und komisch und ist zwischen ihnen verschiebbar. Je bewusster wir uns unseres eigenen Verhaltens sind, umso leichter gelingt diese Verschiebung.

4. Selbsterkenntnis heißt vor allem: die Rollen zu kennen, die man spielt. Dazu ist Achtsamkeit nötig.

5. »Wer bin ich?« ist die zentrale spirituelle Frage, der Kern jeden Erkenntniswegs. Man kann sich diese Frage in der stillen Meditation stellen, im Dialog (Enlightenment Intensive) oder im Spiel (Rollenspiel, Theaterspiel). Der Weg des Clowns, des Narren, Komikers oder Humoristen ist der Weg des praktischen, nicht nur verbalen Erforschens dieser Frage und ihrer Vertiefung.

6. Es gibt eine verbal bewusste, ansprechbare Identität (der Beruf, Familienstand etc.). Außerdem gibt es die nicht verbal gesprochenen, meist unbewussten Facetten der Persönlichkeit. Sie zeigen sich in der Körpersprache und im Beziehungsverhalten. Humor und Improtheater können diese versteckten Aspekte der persönlichen Identität aufdecken helfen.

7. Das Ausmaß, in dem wir in eine Rolle hineingehen können, zeigt unsere persönliche Freiheit. Archetypische Rollen sind z.B. die Kellertypen nach Johannes Galli: der Binnix, die Tranfunzel, der Fetzer, der Geizhals, der Großkotz, das Flittchen und das Lästermaul. (Es gibt auch andere, ebenso nützliche Typologien).

8. Im Gegensatz zur oberflächlichen Komik ist die tiefe Komik mit einem dünnen Faden an ihr Gegenteil gebunden. Der Zuschauer lacht, aber eigentlich könnte er auch weinen.

9. Das wichtigste Mittel, um komisch zu wirken, ist die Übertreibung. Beim Einsatz dieses Mittels in der Therapie und im Krisencoaching (etwa bei der Imitation eines Klientenmusters) kommt es vor allem auf Dosierung der Übertreibung an, zweitens auch auf den Zeitpunkt, wann man sie bringt.

10. Nichts in der objektiven Welt »da draußen« ist an sich komisch oder tragisch. Die Komik liegt im Auge des Betrachters.

geschrieben von Wolf S. Schneider

15/09/2021

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